Im dritten Teil unserer Serie über die finnische Mythologie tauchen wir tief in die alten heidnischen Gebräuche ein, die über Jahrhunderte hinweg das tägliche Leben der Finnen prägten. Im Zentrum dieser faszinierenden Welt stand die Vorstellung einer verborgenen, parallelen Realität: die sogenannte Feenwelt (Henkimaailma).
Diese Welt wurde als exaktes Spiegelbild unserer eigenen betrachtet – jedoch stand man dort, zumindest von unserer Perspektive aus gesehen, mit dem Kopf nach unten auf der Unterseite der Erdoberfläche. Alles Vertraute war dort verdreht, und der Alltag wurde von einem magischen, geheimnisvollen Zauber begleitet.
Die Decke des Waldes (Metsänpeitto)
Laut dem alten finnischen Volksglauben war es durchaus möglich, versehentlich in diese versteckte Parallelwelt zu gelangen. Wer die richtigen Schutzzauber oder Rituale nicht beherrschte, lief Gefahr, für immer dort verloren zu bleiben. Besonders kritisch war dies, wenn lebenswichtige Nutztiere wie Kühe plötzlich verschwanden. Die Finnen glaubten, dass die Tiere womöglich unter die sogenannte Decke des Waldes geraten waren, also in die Feenwelt, die sich direkt unter unseren Füßen befindet.
Rustikaler Schnapshalter
Ein rustikaler Schnapshalter aus Holz und Geweih. Mit vier Gläsern.
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In so einem Fall war es sinnlos, die Tiere auf normale Weise zu rufen, denn in der Parallelwelt konnten sie diese Rufe ja nicht hören. Stattdessen mussten die Menschen spezielle Öffnungen zur Feenwelt finden. Dafür genügte bereits ein hohler Baumstamm oder ein kleines Erdloch, das symbolisch beide Welten miteinander verband. Rief man durch eine solche Öffnung in die andere Welt hinein, bestand die Hoffnung, dass das Tier die Stimme erkannte und zurück nach Hause fand.
Verirrte Personen und spiegelverkehrte Kleidung
Doch nicht nur Tiere verschwanden gelegentlich in der Feenwelt – auch Menschen konnten plötzlich darin gefangen sein. Da in der verborgenen Welt alles spiegelverkehrt war, trugen auch die Wesen dort ihre Kleidung verkehrt herum. Hatte sich also jemand im Wald verirrt und erkannte die eigentlich vertraute Umgebung plötzlich nicht mehr, vermutete man, dass er bereits in die Feenwelt gelangt war.
Um wieder in die reale Welt zurückzufinden, mussten Socken oder Schuhe getauscht oder die Jacke umgedreht getragen werden. Auch die Menschen, die nach einem Vermissten suchten, mussten ihre Kleidung entsprechend verkehrt herum tragen – denn nur dann war ihnen überhaupt ein Blick in die Parallelwelt möglich. Hielten sich die Suchenden nicht an diese Regel, sahen sie die verschwundene Person möglicherweise nur als Baum oder Stein.
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Reflexionen im Wasser – der Blick in eine andere Welt
Wer schon einmal einen Sonnenuntergang an einem windstillen Abend an einem finnischen See genossen hat, kennt den Zauber, wenn sich die goldene Landschaft im Wasser spiegelt. Mit etwas Fantasie sieht es aus, als befände sich unter der spiegelglatten Wasseroberfläche tatsächlich eine andere, magische Welt. Früher glaubten die Menschen fest daran, dass an solchen Abenden, an bestimmten Gewässern, die Grenze zwischen unserer und der Feenwelt verschwamm. Die goldenen Sonnenstrahlen ermöglichten dann einen kurzen, magischen Blick direkt in die Parallelwelt – bis das letzte Licht hinter dem Horizont verschwand.
Das langsame Verschwinden des Volksglaubens
Erst im Verlauf der 1950er und 1960er Jahre begann der ernsthafte Glaube an das Metsänpeitto langsam zu verblassen. Grund hierfür war wohl die zunehmende Modernisierung der finnischen Gesellschaft, verbunden mit der stetigen Ausbreitung von Städten und Straßen, wodurch die einst unergründlichen Wälder ihre geheimnisvolle Aura verloren. Jahrhundertelang waren die Wälder Finnlands das unberührte Reich des Waldgottes Tapio und die Grenze der Zivilisation gewesen – doch schließlich verschwand mit der Wildnis auch die alte Vorstellung einer verborgenen Parallelwelt zunehmend aus dem Alltag der Menschen.
Weitere Blogbeiträge zum Thema finnische Mythologie:
Falls du die anderen Teile unserer Serie verpasst hast, kannst du hier mehr über Finnlands Folklore erfahren. Lass dich erneut verzaubern und entdecke mit uns Finnlands geheimnisvollste Wesen, die bis heute die Fantasie der Menschen im hohen Norden bereichern.
Neue Einblicke in die finnische Mythologie – Teil 1
Neue Einblicke in die finnische Mythologie – Teil 2
Neue Einblicke in die finnische Mythologie – Teil 4
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Dieser Beitrag wurde zuletzt am 26.3.2025 von unserem Team komplett überarbeitet.
Quellen:
Uno Harva, Suomalaisten muinaisusko, SKS
Marko Leppänen, Metsänpeitossa – siis missä?, Esoteerinen maantiede ja periferiaterapia
Tomi Letonsaari, Metsänhaltijat Itäsuomalaisessa kansanuskossa. Pro gradu -tutkielma
Bilder:
Ein Teil der Bilder sind KI-Generiert nach den Wünschen und Vorstellungen der Autorin
Copyright Kalevala Spirit Oy Ltd., Finnland